[020] Raul Krauthausen – Aktivismus für Inklusion in Deutschland

Raul Krauthausen ist Aktivist für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen und die Barrierefreiheit, Kommunikator, Design Thinker und Gründer der Organisation Sozialhelden. Außerdem ist er Rollstuhlfahrer und leidet seit seiner Geburt an der als “Glasknochen” bekannten Erkrankung (Osteogenesis Imperfecta). Er ist Deutschlands bekannteste Stimme, wenn es um Inklusion geht. Wer ihn einmal auf der Bühne erlebt hat oder seinen Newsletter liest, nimmt jede Menge Inspiration, humorvolle Denkanstöße und Motivation mit.

In diesem Gespräch sprechen wir über die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in den Arbeitsmarkt und die Herausforderungen, die Deutschland in diesem Bereich trotz vieler Fortschritte und Errungenschaften in den letzten Jahren immer noch hat.

Das Interview ist als Video auf YouTube mit Untertiteln verfügbar, und auch gleich unten, in transkribierter Version.

Marco Túlio Silva: Erstmal vielen Dank, dass Sie ein paar Zeit für mich haben. Wenn Sie etwas nicht verstehen, wegen der Sprache, bitte sagen Sie Bescheid.

Raul Krauthausen: OK! Gerne.

Marco Túlio Silva: Ja, also… Ich habe einige Behindertenwerkstätten besucht, das gibt es in Brasilien gar nicht, und ich möchte Sie fragen was denken Sie über diese Behindertenwerkstätten? Sind sie nötig für die Inklusion oder denken Sie dass ein anderes System besser wäre?

Raul Krauthausen: Also, ich finde die Behindertenwerkstätten sind ein Teil des Problems.

Marco Túlio Silva: Ein Teil des Problems!?

Raul Krauthausen: Ja! Weil Auftrag Menschen mit Behinderung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln sie nicht machen. Also, die Quote der Menschen die aus den Werkstätten in den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen liegt unter 1%. Und das obwohl der Auftrag von den Werkstätten genau ihre Aufgabe ist.

Man muss die Fragen stellen: warum ist diese Quote so schlecht? Wieviel Geld bekommen Werkstätte eigentlich dafür, dass sie angeblich versuchen? Wie kann es sein, dass niemand genau hinschaut warum sie so schlecht sind? Das Problem ist sehr vielfältig, das haben wir auch dokumentiert auf unsere Website JobInklusive, warum es so schwierig ist. Aber man kann sagen, dass die Behindertenwerkstätten eine eigene Industrie geworden sind, mit eigenen Lieferketten, mit eigenen Logistik, mit eigenen Supermärkte, die einige eine Art Parallelwirtschaft treiben, und das ganze nur betreiben können weil sie ihre Angestellten, also, ihre beschäftigten mit Behinderung sehr schlecht bezahlen.

Und gerade es ganz viel Geld vom Staat, also Subventionierung, gibt. Die Menschen in diesen Werkstätten verdienen weniger als den Mindestlohn – sie arbeiten trotzdem 8 Stunden am Tag. Das hat nichts mit Selbstbestimmung zu tun. Die Leute die für diesen Menschen in diesen Werkstätten sprechen, die auch unsere Kritiker sind, sie haben selber keine Behinderung. Sie Argumentieren immer mit dem Schutz – sie sagen immer, dass die Menschen mit Behinderung am allgemeinen Arbeitsmarkt überfordert sind, dass die Menschen mit Behinderung ja vielleicht nicht gut arbeiten können wie Menschen ohne Behinderung. Aber der große Anteil der Menschen die in diesen Werkstätten sind kommen ursprünglich aus den allgemeinen Arbeitsmarkt, und zwar mit Burnout und psychischer Erkrankung.

Das Problem liegt also woanders. Das Problem liegt in dem allgemeinen Arbeitsmarkt, der nicht inklusiv ist, der immer nur die gesunden und fitten haben will, aber nicht da wegen Menschen mit Behinderung wenig leisten. Wir müssen also schauen wie wir die Gelder in diesen Werkstätten einsetzen können, um den allgemeinen Arbeitsmarkt inklusiver zu gestalten. Ich denke da braucht man beides – da braucht man auf eine seite Vorbildern und Förderung, aber man braucht auch Gesetze und Verpflichtung. Weil die letzte Zwanzig Jahren gezeigt haben, dass wir mit Freiwilligkeit in dem Bereich nicht weiterkommen. Also, es reicht nicht Werbung zu machen, Plakaten zu kleben und Broschüren zu drücken. Sag mal wir müssen jetzt auch den Gesetzgeber dazu bringen der Unternehmen verpflichtet ihre Quoten zu erfüllen, und wenn sie die Quoten nicht erfüllen dann müssen sie gestraft werden.

Marco Túlio Silva: Das heißt, die aktuelle Gesetzen sind nicht genug, meinen Sie?

Raul Krauthausen: Die sind zu Schwach, genau! Es sind zu viele Lücken um daraus zu kommen. Ein Unternehmen das zwanzig Mitarbeiter beschäftigt muss fünf prozent seiner Belegschaft mit Menschen mit Behinderung besetzen, das heißt bei zwanzig Mitarbeiter*innen eine Person. Wenn es das nicht tut, dann muss das Unternehmen 300 € pro Monat bezahlen für jede nicht besetzte Stelle. Das ist unscheinbar zu günstig. Wenn es 1000 € wäre, dann würde ein Unternehmen sich vielleicht ehe die Frage stellen “kann ich für 12.000 € im Jahr nicht auch langsam eine Struktur bauen die mein Unternehmen in die Lage versetzt auch Behinderten Menschen zu beschäftigen?”

Marco Túlio Silva: Ich habe dieses Gesetz gelesen… wie heißt es? 9.Gesetzbuch (Sozialgesetzbuch IX)…

Raul Krauthausen: Keine Ahnung! Ich bin kein Jurist.

Marco Túlio Silva: Ah ja, ich auch nicht… Ich fande das sehr Bürokratisch. Aber liegt es auch an den Verhalten der Menschen ohne Behinderung zu Menschen mit Behinderung? Also, ich meine, wie Sie mehrmals gesagt haben: Menschen ohne Behinderung haben keine (weniger) nähe Beziehung zu Menschen mit Behinderung während ihres Lebens, also von Kinder (Kindheit) an. Wenn man älter wird, wird es dann schwieriger. Was kann der Staat tun damit Menschen mit Behinderung und ohne Behinderung seit dem Anfang des Lebens miteinander kommen?

Raul Krauthausen: Also, das fängt natürlich im Kindergarten an. Das heißt Eltern von Kindern mit Behinderung müssen die gleichen Rechten bekommen ihrer Kindern an normalen Kindergärten und Regelschulen zu schicken. Das darf dann von bürokratischer Seite nicht erschwert werden. Wir müssen die Förderschulen und Förderstrukturen reduzieren und die Gelder die dort sind in Regelschulen investieren. Das ist der Weg indem anderen Länder gegangen sind, Italien, Spanien, Großbritannien, Kanada, Japan, USA, die alle das in den letzten Jahrzehnte gemacht haben, vor allem die Skandinavischen Länder auch, und damit sehr erfolgreich sind, und am Ende sogar sagen, dass es heute wirtschaftlich günstige ist, wenn wir alle gemeisam leben und den Öffentlichen Personennahverkehr barrierefrei machen, und die Schulen barrierefrei machen, kleine Klassen für alle Schüler haben, mehr Pädagoginnen für alle Schüler haben, das am Ende alle profitieren. Im Moment ist es so, dass die Förderschulen natürlich eigene Gebäude haben, mit eigener Personal und kleinen Klassen, aber dadurch sie selektiert bleiben, und weniger miteinander begegnen.

Ich glaube wir müssen aufpassen dass wir nicht ein Argument mit dem anderen benutzen, also zu sagen kein Unternehmen stellt Behinderten Menschen ein weil sie nie den Umgang mit Behinderten Menschen gelernt haben. Und gleichzeitig die Schulen sagen, naja, aber der Arbeitsmarkt will diese Menschen ja ehe nicht haben, deswegen packen wir sie in die ganzen Förderschulen und Behindertenwerkstätten, dann ändert sich ja gar nichts. Das heißt wir müssen eigentlich dafür sorgen, dass wir von Anfang an gemeinsam miteinander auch wachsen und leben, und dann gucken wie können wir das nicht mehr in der Schulen und in Kindergarten umsetzen, sondern eben auch im Arbeitsmarkt. Wir müssen alles gleichzeitig machen, aber nicht erst eine Sache und dann die andere. Ich glaube nicht mehr, nach zwanzig Jahren Erfahrung, dass wir das freiwillig hinkriegen. Also, wir müssen das mit Gesetze machen.

Marco Túlio Silva: In Ihr Buch, es gibt ein Teil wo Sie ein Vortrag halten und ein Mann sagt “Meine Ansicht nach hat sich der erste Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung dadurch nicht geöffnet [Also, durch die Quoten]. Obwohl dabei bestimmt viel Geld geflossen ist”. Sie waren beim Zentrum für Disabilities Studies in Hamburg, glaube ich. Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?

Raul Krauthausen: Gar nichts!

Marco Túlio Silva: Gar nichts, ja?

Raul Krauthausen: Also, das entwickelt sich nicht so schnell. Wahrscheinlich brauchen wir hier viele Jahren, Jahrzehnten. Wir leben in Deutschland in einem Land das sehr konservativ regiert wird. Wir immer noch glauben, dass Behinderten Menschen, wie in der Kirche, bemitleidet werden müssen und man ihnen über den Kopf streichen muss, und sie geschützt werden müssen vor Niederlage. Dieser Paternalismus, der mitschwingt, ist Teil des Problems.

Das heißt wir müssen eigentlich Menschen mit Behinderung auch die Möglichkeiten und Freiräumen einrollen sich auszuprobieren, an ihren Grenzen zu gehen, und das tun wir in Deutschland noch sehr schwer. Das Problem ist auch… also, ich weiß nicht wie es für dich ist, als jemand der aus Südamerika kommt… Die deutschen haben immer den Anspruch in jede Kategorie Weltmeister zu sein. Und merken sie gar nicht wie schlecht sie in vielen Bereiche sind, also sei es die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau, sei es die Gleichberechtigung zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, aber die deutschen glauben sie sind Super. Wenn man sie aber vergleicht in der internationalen Marktschaft, dann merkt man es gibt einigen Länder die sind viel weiter. Gerade die Skandinavischen Länder, zum Beispiel.

Das wollen die deutschen aber nicht hören. Sie argumentieren dann mit zwanzig Jahren alten Argumenten, die am Ende einige nur dafür sorgen, dass wir nichts verändern müssen. Da wird es zum Beispiel gesagt, wir müssen erst die Barrieren in den Köpfen senken. Das ist ein deutscher Satz, der eigentlich dazu führt, dass wir nichts machen müssen, weil wir müssen erst die Barriere in den Köpfen senken, bevor wir ein Aufzug bauen. Aber eigentlich erst den Aufzug bauen, damit die Barrieren in den Köpfen senken. Aber diese Verantwortung will man nicht übernehmen. Ein Aufzug zu bauen, mit dem zu reden, keine Ahnung was! Das Geld zu bezahlen vor allem. Inklusion ist immer eine Geldfrage in Deutschland, und keine Menschenrechtliche Frage, weil die deutschen besessen davon sind Geld zu sparen, egal in welcher Kategorie. Es ist natürlich auch nicht so einfach.

Marco Túlio Silva: Gibt es irgendein internationaler Drück, damit Deutschland besser im Bereich Inklusion kommt? Also, ich weiss es gibt die UN-Behindertenrechtskonvention, aber reicht das? Was meinen Sie dazu?

Raul Krauthausen: Die UN-Behindertenrechtskonvention ist es sicherlich total wichtig, weil sie Vergleichbarkeiten ermöglicht, wie gut es Deutschland in Vergleich zu anderen Länder in der gleichen Industriewirtschaft Liga, also, und Wirtschaftsstandard meine ich. Natürlich kann man Deutschland nicht mit Brasilien vergleichen, weil die Infrastruktur auch eine andere ist, aber man kann Deutschland mit Schweden vergleichen. Selbst in Brasilien oder auch in Bangladesh haben Menschen mit Behinderung in einigen Bereichen stärkere Rechte als in Deutschland. Ich weiß nicht ob in Brasilien zum Beispiel Menschen mit Geistige Behinderung schon immer Wählen dürfen. In Deutschland dürfen sie erst seit Zwei Jahren.

Das ist natürlich auch ein großes Problem, dass… wie soll ich sagen… die deutschen, ich denke, ungern über ihre eigene Tellern anschauen. Die UN-Behindertenrechtskonvention ist also super für diese Vergleichbarkeit, aber sie ist halt auch nur ein Textpapier. Also, du kannst ein Land wie Deutschland nicht ins Gefängnis stecken. Mal sagen, du musst Strafe bezahlen.. an wem dann? Das heißt es ist momentan ehe so eine Art Imageverlust, wenn Deutschland sich nicht an die Regeln hält, aber Deutschland hält sich auch nicht an die Regeln, dass Frauenrechte angeht, oder Kinderrechte, in Vergleich zu anderen Länder. Das heißt die Papier ist sehr geduldig, man muss halt dann genau schauen wie man das in nationale Gesetze überführt.

Solange wir Angela Merkel und die CDU an der Macht haben, und das ist schon mal Sechzehn Jahren, also fast Zwanzig Jahren, das tut auch nicht viel in dem Bereich. Die großen Behindertenrechtsverbesserungen gab es zum Beispiel bei Rot-Grün, also, ohne Angela Merkel und die CDU. Ich glaube auch nicht, dass Angela Merkel das Problem ist. Das Problem ist die CDU.

Marco Túlio Silva: Ok! Also, Sie sind auch Medienmenschen in den Medien mit Sendungen und so. Glauben Sie auch, dass die Medien eine wichtige Rolle zu Inklusion spielen oder ist es nicht mehr wie vorher?

Raul Krauthausen: Ja, Medien spielen eine wichtige Rolle, aber durch das Internet haben natürlich Menschen mit Behinderung auch die Möglichkeit viel leichter ihre eigenen Öffentlichkeiten zu mobilisieren. Das heißt die Medien verändern sich vielleicht auch in den Einfluss, wird es nicht mehr ganz so wichtig, aber es ist total wichtig über den Medien, Sozialen Medien und klassischen Medien an Vorbildern zu erleben, also Menschen mit Behinderung die Wissenschaftler geworden sind, oder Schauspieler*innen, oder Nachrichtensprecher*innen, oder in der Werbung auftauchen. Das würde ganz viel auch mit der Perspektive auf das Thema Behinderung verändern. Und auch da ist Deutschland noch sehr weit hinter an, wenn man sich anguckt wie es in Großbritannien aussieht, wo es Moderator*innen in Kinderfernsehen gibt mit Behinderung. Oder wo es in den USA großartige Schauspieler*innen mit Behinderung gibt, die bei Game of Thrones mitspielen. Das gibt es in Deutschland gar nicht. In Deutschland spielen immer Menschen ohne Behinderung irgendein Menschen mit Behinderung.

Marco Túlio Silva: In Brasilien auch!

Raul Krauthausen: Das müssen wir verändern, weil sonst ändert sich auch die Perspektive auf Behinderung nicht. Also, es gibt noch viel zu tun in Deutschland.

Marco Túlio Silva: Ja! In Brasilien auch! Es gibt viele Aktivisten für Inklusion die stark in den Sozialen Medien sind, aber sie sind nicht in Hauptsendungen, in Fernsehen zum Beispiel.

Raul Krauthausen: Genau! Das meine ich, genau!

Marco Túlio Silva: Genau! Herr Krauthausen, vielen Dank für Ihre Interview! Alles gute!

Raul Krauthausen: Gerne! Tschüß!

Foto: © Anna Spindelndreier, 2020

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